Wir, die Migrations- und Integrationsbeiräte Bayerns sehen mit großer Sorge die Situation von jesidischen Geflüchteten und fordern die Umsetzung eines Abschiebestopps in Bayern.
Noch im Januar 2023 hat der Deutsche Bundestag die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesid*innen im Nordirak seit 2014 durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) als Völkermord eingestuft. Mit dieser Entscheidung hat sich der Bundestag einstimmig an die Seite der Jesid*innen gestellt und ihr Leid sowie ihre Schutzbedürftigkeit anerkannt. Die Entscheidung vom 19. Januar 2023 war nicht nur politisch wichtig, sondern auch darüber hinaus bedeutsam. Sie hat Wunden innerhalb der jesidischen Gemeinschaft geheilt und den Schutzsuchenden ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Anerkennung gegeben.
Seit einigen Monaten sollen jedoch schutzsuchende Jesid*innen aus Deutschland, auch aus Bayern, systematisch in den Irak abgeschoben werden. Das ist erschreckend, zumal es sich um Überlebende eines Völkermordes handelt. Jetzt sollen sie in ein Land abgeschoben werden, in dem Islamismus[1] und korrupte Politik im Irak ihre Existenz tagtäglich bedroht.
Zur Erinnerung: Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz IS das jesidische Siedlungsgebiet Şengal und verübte
einen Völkermord an den Jesid*innen und Femizide. Der sogenannte IS ermordete über 10.000 Menschen und mehr als 400.000 Menschen wurden vertrieben. Mehr als 5.000 Frauen und Mädchen wurden versklavt, von rund 2.700 Frauen und Mädchen fehlt bis heute jede Spur.
Seit 2014 haben zehntausende schwer traumatisierte Jesid*innen in Deutschland Zuflucht gefunden und sich eine neue Existenz aufgebaut. Trotzdem begann im Mai 2023 die systematische Abschiebung von Jesid*innen in den Irak. Derzeit gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Jesid*innen aus Deutschland abgeschoben wurden. Laut Schätzungen der Organisation “Pro Asyl” sind derzeit 5.000 bis 10.000 Jesid*innen aus dem Irak ausreisepflichtig und von Abschiebung bedroht, in den letzten Monaten gab es mehrere Fälle aus Bayern.
In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora Europas mit etwa 250.000 Angehörigen, allein in München über 10.000. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Diese Menschen haben sich hierzulande sozial und wirtschaftlich eine Existenz aufgebaut, die nun akut gefährdet ist.
Die Abschiebung und Abschiebehaft von schutzsuchenden Jesid*innen ist aus mehreren Gründen skandalös und moralisch nicht vertretbar. Abschiebungen von Menschen mit traumatischen Lebens- und Fluchtgeschichten reaktivieren alte Traumata und sind auch integrationspolitisch eine fatale Entscheidung. Überlebende des Genozids von 2014,
die in der Diaspora begonnen haben ihre Traumata aufzuarbeiten, werden gegen ihren Willen an den Ort zurückgeschickt, an dem sie Terror erleben mussten. Bei einer Rückkehr droht vielen Jesid*innen die faktische Fortsetzung des Völkermords, da sie allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft in hohem Maße von Verfolgung bedroht sind.
Tausende Jesid*innen in Deutschland haben derzeit Angst vor der Rückkehr in die Perspektivlosigkeit. Die Angst, in ihre unsichere Herkunftsregion zurückgeschickt zu werden, erhöht bei vielen traumatisierten Überlebenden des Völkermords zudem das Suizidrisiko. Das Recht auf Schutz und Sicherheit vor Terror und Krieg ist ein grundlegendes Menschenrecht, das allen Menschen zusteht. Menschen, die als Opfer von Völkermord anerkannt sind, dürfen nicht in das Land abgeschoben werden, in dem der Völkermord stattgefunden hat!
Die Bundesregierung hat dies bereits erkannt, es ist an der Zeit, dass auch die Bundesländer diese Haltung umsetzen und sich nicht von einfachen Lösungen aus dem rechten Spektrum lenken lassen. Im März erklärte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage: „Für jesidische Religionszugehörige aus dem Irak (…) ist es –
ungeachtet veränderter Verhältnisse – nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.“
Wir fordern von der Bayerischen Staatsregierung:
- einen sofortigen Abschiebestopp für Jesid*innen, wie er etwa in Nordrhein-Westfalen bereits erlassen wurde;
- die Kontaktaufnahme mit den bereits Abgeschobenen, um eine Rückkehr zu ermöglichen;
- eine politische Bleiberechtsregelung für jesidische Geflüchtete.
[1] Islamismus bezeichnet eine politische Ideologie, die sich zwar auf den Islam beruft, aber eine radikale, oft militante Auslegung der Religion vertritt. Diese Ideologie strebt danach, politische und gesellschaftliche Systeme streng nach ihrer Interpretation der islamischen Rechtsvorstellungen zu formen und greift im Falle des Islamischen Staats zu Terrormitteln. Trotz der Verwendung des Begriffs „Islam“ repräsentiert der Islamismus nicht den Islam selbst, sondern eine politische Instrumentalisierung der Religion. Islamistische Gruppen verwenden religiöse Symbole, um ihre Aktionen zu legitimieren, was häufig zu Missverständnissen und falschen Vorurteilen gegenüber friedlich praktizierenden Muslim*innen führt und diese ungerechtfertigt unter Generalverdacht stellt.